Der große Coast Is Clear-Jahresrückblick 2023 – Teil 1: Die Songs (1/2)

Dienstag, Dezember 26, 2023 Parklife 2 Kommentare

Ach ja, 2023, was war denn da bitte los?! Es ist für mich das beste Musikjahr seit mindestens 2012, und es ist sogar ein Musikjahr, wie ich es in meinem Leben bisher noch nie hatte. Was nicht daran liegt, dass 2023 etwa so viele tolle neue Alben erschienen wären, sondern dass sich für mich mit dem japanischen Musikmarkt eine ganz neue Welt aufgetan hat, die ich bis dato bestenfalls am Rand wahrgenommen hatte.

Ich war ja in den letzten Jahren immer unzufriedener mit meinem Musikkonsum geworden; irgendwie drehte sich alles in den bekannten westlichen (Indie-/Wave-)Bahnen, die mich nicht mehr so wirklich glücklich machten. Von daher war Japan für mich sowas wie ein Rettungsring, der mich auf zu für mich z.T. neuen Ufern brachte. Auch Shoegaze klingt aus Japan wieder interessant, aber ich habe eben auch angefangen, mal etwas Jazz oder 70's Folk zu hören, oder Math-Rock, Progmetal, Poetry Rap... Ein gewisser Eklektizismus ist so manchem Künstler/-in in Japan zueigen, was es so spannend macht. Sängerinnen wie Sheena Ringo oder Ano, oder auch Bands wie BABYMETAL oder Gesu no kiwami otome sind da besonders herausstechende Beispiele, die keine stilistischen Beschränkungen kennen und immer wieder überraschen.

Mit Jazz konnte man mich bisher jagen, doch da in japanischer Musik häufig Jazz-artige Einflüsse auftauchen – selbst in scheinbar banalen Chart-Popsongs; mal deutlich, mal dezent durch ein paar eingestreute japanische Akkordfolgen oder unerwartete Rhythmuswechsel –, konnte ich dem gar nicht entkommen. Und irgendwann entwickelt dieser Sound dann einen gewissen Reiz, der mich zunehmend angefixt hat. Was Musik aus Japan in meinen Ohren gerne auszeichnet, ist, dass komplexe Songstrukturen mit eingängigen Melodien verquickt werden – etwas, das im Westen doch z.T. eher verpönt (geworden) ist. Allerdings dauert es seine Zeit, bis man sich daran gewöhnt hat, dass in Japan die musikalischen Uhren zuweilen anders ticken und man nicht immer nach den bei uns gewohnten Schemata verfährt. Ich habe gute zwei Jahre gebraucht und mich langsam rangetastet, aber irgendwann von Ende 2022 an war ich dann endlich richtig bereit dafür.

last.fm liefert die nackten Fakten – ich habe 2023 so viel Musik gehört wie seit 2007 nicht mehr. Von den 50 meistgehörten Liedern stammen 47 aus Japan, überwiegend älteres. Bei den meistgehörten Künstlern/-innen sind 24 der ersten 25 japanisch. So geolokal einseitig war ich auch noch nie, stilistisch dafür breiter gestreut als sonst, aber es ist eben eine Sondersituation, die sich sicherlich im Laufe der nächsten Jahre wieder „normalisieren” wird. 

Dies sind lt. meinem last.fm-Profil meine meistgehörten Lieder im Jahr 2023:

(Für alle, die die japanischen Schriftzeichen nicht entziffern können: Platz 1 sind YAPOOS/Jun Togawa, Platz 9, 11 & 14 Gesu no kiwami otome, Platz 15 Sheena Ringo und Platz 19 Atashi.)

Normalerweise macht es wenig Sinn, die meistgehörten Songs auch noch mal explizit vorzustellen, weil es bisher eine ziemliche Deckungsgleichheit mit meinen Jahres-Songcharts gab, aber da diesmal so viele Lieder aus früheren Jahren stammen, will ich zumindest ein paar davon noch mal explizit hervorheben und werde somit erstmalig zwei Blogposts nur zu den Songs verfassen:

1. 戸川純 «パンク蛹化の女 (live)» (YAPOOS/Jun Togawa «Panku sanagika no on'na») [1986/87] (Dazu muss man wissen, dass YAPOOS die Wave-/PostPunk-Band der Avant Garde-Künstlerin und Enfant Terrible der japanischen Musikszene Jun Togawa ist, die eigentlich eine extrem variable und kräftige Stimme hat – bei diesem Song aber absichtlich primär schreit und krächzt; kann fast schon als Punk-Parodie durchgehen. Wenn Pachelbel das noch erlebt hätte. ;-)



4. indigo la End «忘れて花束»Wasurete hanataba») [2015] (eine der 3 Haupt-Bands von Enon Kawatani, der extrem umtriebig ist und viele grandiose Lieder  (auch noch für andere Acts) geschrieben hat; indigo ist seine Indierock-Gruppe, und der Song hier erinnert mich an beste Mew-Zeiten.)



3. REBECCA «FRIENDS» [1985] (einer der größten 80er Jahre Hits in Japan; wird auch heute noch von jungen Bands gecovert. Fand ich zuerst etwas cheesy, aber entwickelte sich bei mir zum absoluten Ohrwurm. Die unterschwellige Melancholie ist toll.)



5. カネコアヤノ - ロマンス宣言 (Ayano Kaneko «Romance sengen») [2019] (meine meistgehörte Künstlerin des Jahres und auch meine Top-Neuentdeckung. Der Song hier wurde ein viraler Hit Dank eines Memes, aber er ist einfach klasse – fluffig, schmissig und lustig.)



7. SUPERCAR «LUCKY» [1998] (den typisch britischen Sound zwischen Shoegaze und 80er Sara Rec.-Gesang kann man kaum besser treffen als mit diesem Song. Im Grunde perfekter Britpop, nur eben aus Japan.)



9. ゲスの極み乙女 «オトナチック» (Gesu no kiwami otome «Otonachikku») [2015] (eine weitere Band von Enon Kawatani – und für mich eine der Offenbarungen und besten Neuentdeckungen des Jahres 2023. Ich liebe ihren angejazzten Sound, sogar mit ein paar Funk-Basslinien, aber auch Pop-Appeal und dem Blick ins Experimentelle. Und alle, wirklich alle ihre Videos sind cool und originell.)



12. ATARASHII GAKKO! «迷えば尊し» Mayoeba tōtoshi») [2019] (Ich habe  AG! tatsächlich schon im Jahr 2020 kennengelernt, aber mit ihrem jazzigen und etwas seltsamen (und extrem abwechslungsreichen) Sound konnte ich damals nicht viel anfangen. Über diese Gruppe gäbe es viel zu schreiben – sie fallen unter die Rubrik „Anti-Idol“ und sind für mich im Grunde Punks in Schuluniformen mit ihrem anarchischen Humor – definitiv eine der derzeit interessantesten und unterhaltsamsten Gruppen der Welt (zumindest in meiner Welt ;-).)



15. 椎名林檎 «罪と罰» (live) (Sheena Ringo «Tsumitobachi / Crime and Punishment») [2015] (Sheena Ringo ist eine absolute Ikone der japanischen Musikszene, feiert dieses Jahr 25 jähriges Bühnenjubiläum und, wie bereits oben erwähnt, ist sicherlich eine der stilistisch vielseitigsten Künstlerinnen (von Jazz über Pop bis Rock), mit einer Wahnsinns-Stimme und immer elegant und stilsicher. Mit ihrer kompromisslosen Art, sich keinen Charttrends anzupassen, hat sie viele jüngere Künstler(-innen) beeinflusst und inspiriert. Eigentlich ist es unglaublich (und etwas tragisch), dass jemand mit so viel Talent (sie schreibt uns produziert ihre eigene Musik, schreibt Lieder für andere Künstler und spielt außerdem Gitarre und Bass in einer ebenso erfolgreichen Rockband namens Tokyo Jihen) außerhalb Japans kaum bekannt ist.)



Und als Bonüsse noch ein paar weitere Lieder, die mir ebenfalls viel Spaß gemacht haben in diesem Jahr:

Sokoninaru «Tenohira De Odoru» [2018] (dieses Trio fällt in die Rubrik "MathCore/MathRock", und bisher mochte ich solche Musik eher nicht, da sie mir zu hektisch war. Doch inzwischen finde ich manches davon prima, und gerde Sokoninaru, die alle überragend gute Musiker sind, schaffen es, wilde, chaotische Strukturen mit ohrschmeichelnden Melodien zu verbinden.) 



Mayumi Kojima (小島麻由美) «Poltergeist (ポルターガイスト)» [2003] (eine japanische Jazz- und Rocksteady-Sängerin, die einige ganz tolle Songs geschrieben hat, wie diesen hier, der von 2003 ist, aber vom Video her auch aus den 1950ern/60ern stammen könnte. Das ist der berühmte japanische Humor. :-) 



samayuzame «Apocalypse Now» [2021] (diese japanische Elektrokünstlerin schreibt und produziert all ihre Musik selbst – ihr Stil ist schwer zu beschreiben, er hat jedenfalls stark experimentelle Züge, und, wie so oft, tauchen auch Jazz-Einflüsse auf. Klasse Video auch.)



ano «F*** wonderful world» [2021] (und noch ein kleiner Schocker zum Abschluss ;-). Ano ist eine sehr schillernde Sängerin, die mal in einer Idolgruppe war, aber immer auch schon Punk gemacht hat und vor allem in ihren frühen Solo-Songs wie diesem echt krass schräge Sounds hat, obwohl sie so kindlich aussieht, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Sie hatte diesen Jahr sogar einen Nr. 1-Hit in den japanischen Pop-Charts, mit der Ano-typischen Weirdness. Leider ist ihre Stimme nicht so toll, sonst wäre ich noch größerer Fan. Ihre Indierock-Band I’s, in der sie noch aktiv ist, ist übrigens auch ziemlich klasse, s.u. mit einem ein bisschen an Kent erinnernden Song.)



I's «僕の春» [2021]

2 Kommentare:

  1. Deine Jahresrückblick passt ja super in den gerade gestarteten Japanuary. Mehr japanische Musik geht nicht. Außer in deinen beiden anderen Rückblicken wahrscheinlich. :D

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  2. "Japanuary" ist ein cooler Name für die Aktion. :-) Ich muss gestehen, dass ich den bei Dir bisher gar nicht mitbekommen hatte (das zeigt mir mal wieder, dass ich mittlerweile zu selten auf interessenten Blogseiten und zu viel auf Youtube unterwegs bin), aber da werde ich natürlich ein Auge drauf haben.

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